Von Innen nach Außen – Der Choreograf Michael Löhr über die Arbeit an seinem neuen Stück
Von Zufällen und Begegnungen erzählt Michael Löhr in tanzraumberlin. Von dem langen Weg, der ihn schließlich zu seinem Stück Inland führte. Und von Birger Sellin, einem autistischen Schriftsteller, der ihm durch sein Buch Ich will kein Inmich mehr sein dazu brachte, die körperlichen Anstrengungen des eigenen Tanzschaffens zu hinterfragen.
Birger Sellin ist schwer autistisch behindert. Er ist seit seinem zweiten Lebensjahr verstummt, und er ist Schriftsteller. Sellin ist der Sprache mächtig, kann aber nicht sprechen. Doch mit Anfang zwanzig begann er sich mitzuteilen. Mit Hilfe der umstrittenen facilitated communication, bei der ein so genannter Stützer einem kommunikationsbeeinträchtigten Menschen beim Schreiben hilft. Die physische und psychische Anstrengung, das Ringen um jedes einzelne Wort, sind dennoch in jedem Satz spürbar. Und dann ist da noch ein Verdacht, der über Sellins Arbeit schwebt. Der Verdacht, dass seine Stützer seine Texte unbewusst beeinflussen. Als eine gute Freundin mir vor zwei Jahren zufällig Sellins Buch in die Hand drückte, hatte ich sofort dieses starke, sehr körperliche Bild vor Augen. Diesen Gegensatz von Willenskraft und Unfähigkeit. Die Fragestellung, inwieweit das Schreiben fremd gesteuert ist und ob diese bizarren, poetischen Texte das Innenleben Sellins, seiner Mutter oder eines anderen wiedergeben, war eher zusätzlicher Anreiz als Abschreckung. Trotzdem habe ich das Buch erstmal beiseite gelegt. Ich wollte kein Stück über Autisten machen. Außerdem hatte ich (und habe immer noch) das Gefühl, der Text als solches sei stark genug, er brauche keine Bühne.
Dann bin ich zum zweiten Mal zufällig auf ein Buch gestoßen. Dear Everybody von Michael Kimball, eine fikitve Sammlung von Abschiedsbriefen eines Selbstmörders. Briefe an seine erste große Liebe, an seinen gewalttätigen Vater, an seine Ehe- und spätere Exfrau und an den Osterhasen. Ein Buch voll Ungesagtem. Und wieder war es diese Koexistenz von Dringlichkeit und Hilflosigkeit, die mich fasziniert hat.
Langsam wurde mir bewusst, dass ein dem Autismus ähnlicher innerer Zustand in unterschiedlichster Form für uns alle von Belang sein kann. Aufgrund der Überschneidungen in den beiden Büchern, war mir klar, dass, wenn ich doch zu diesem Thema arbeiten würde, es ein Duett werden musste. Ich bin also gemeinsam mit Andrea Schiefer ins Studio gegangen, die ich seit langem gut kenne und deren extreme Körperlichkeit und Schonungslosigkeit als Performerin ideal für diese Arbeit schien. Vorerst ging es nicht um das Erarbeiten einer fertigen Performance. Eher um eine Auseinandersetzung.
Wie vertanzt man so ein Thema? Wie entgeht man der Gefahr, wie so oft im zeitgenössischen Tanz, nur um sich selbst zu kreisen? Wie kann man die Stimmung der beiden Texte transportieren ohne nachzuerzählen, was bereits auf dem Papier gedruckt steht? Die meiste Arbeit während des Rechercheprozesses kreiste um die Frage, wie weit man das Ausgangsmaterial würde reduzieren können und wie weit wir uns von den Figuren der Texte entfernen und etwas Neues mit Relevanz für den Betrachter schaffen dürften?
Unser Ziel war und ist die Essenz der Texte – dieses körperliche Gefühl, dass ich seit der ersten Begegnung mit Sellins Buch hatte – in die Bewegungssprache von Inland zu transportieren. Wir suchten nach Entsprechungen für Motive wie Dringlichkeit, Enge, Scheitern, Hindernis, Widerstand und Manipulation in unseren Körpern. Wir versuchten, Erinnerung an eigene Momente der Ohnmacht, des inneren Kampfes und des Festgefahrenseins wachzurufen, zu multiplizieren und sofort wieder zu entschlacken. Es ging uns darum, die Idee vom mühelosen Tanz, welche mir ohnehin suspekt ist, komplett zu vergessen und die Anstrengung im Körper sichtbar zu machen.
Inland handelt weder von einem Autisten, noch von einem Selbstmörder. Auch nicht von mir selbst. Obwohl ich zugebe, mich die meiste Zeit über hilflos zu fühlen. Wie wir alle vielleicht. So scheint es mir jedenfalls manchmal. Trotzdem schaut Inland nicht nach innen, sondern versucht von innen hinaus zu schauen.
Von Michael Loehr